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Was ist „deutsch“?

5. Kapitel

Auf keinen Fall bewältigt werden kann diese deutsche Aufgabe allerdings, wenn der „Wissenschaftsbetrieb“, wie es schon geschieht und noch stärker geschehen soll, nach amerikanischen, nämlich quantitativen Grundsätzen organisiert wird  wie viele Drittmittel hat er/sie eingeworben, wie viel veröffentlicht, wie viele „Impactpoints“ erzielt usw. Dadurch reißt, wie jedermann mit geringem Einblick in die heutigen Verhältnisse weiß, ein eifersüchtiges Schielen auf Quantität und „Geltung“ ein, unter der die Qualität der Forschung bereits jetzt entschieden leidet. Stattdessen müßten angehende Wissenschaftler nachweisen, daß sie nicht nur Ausbildung, sondern auch Bildung erlangt, insbesondere Denken gelernt haben. Denken bedeutet über das Zerlegen der Welt in Einzelteile hinaus auch, diese Einzelteile wieder sinnvoll zusammenzufügen. Dieses ist seit jeher die Aufgabe der Philosophie, und deshalb gehört eine philosophische Grundbildung zu den Einstellungsvoraussetzungen für jeden Wissenschaftler. Wie wichtig eine tiefere Beschäftigung mit der Philosophie auch und gerade für die Naturwissenschaftler wäre, zeigt beispielhaft eine von Heisenberg in „Der Teil und das Ganze“ mitgeteilte Bemerkung Carl-Friedrich von Weizsäckers mit Bezug auf die allgemeine Feldtheorie: „Aber unser Denken ist so gemacht, daß es zweckmäßig scheint, mit dem Einfachsten zu beginnen, und das Einfachste ist eine Alternative: Ja oder Nein, Sein oder Nichtsein, Gut oder Böse.“ Nein! möchte man ihm zurufen, die Alternative ist ausdrücklich ein Unterschied und folglich nicht einfach. Das Einfache, mit dem sich in der Tat „beginnen“ läßt, ist statt der Alternative ein Unterschied, der ausdrücklich zugleich kein Unterschied (also einfach) ist: das Sich-von-sich-selbst-Unterscheiden. Es läßt sich veranschaulichen am menschlichen Ich, das nur Selbst-Bewußtsein ist, indem es sich  als Subjekt  sich selbst  als Objekt  gegenüberstellt, wenn also ich „ich“ denke. Die so Unterschiedenen sind ausdrücklich dasselbe und also zugleich nicht unterschieden. Dieser Gedanke, der in seiner eleganten Konsequenz die Evolution mit strenger Logik auf Gott in seiner Form als das „im Anfang“ gewesene „Wort“ zurückführt  man braucht nur das, was in der Evolutionslehre beschrieben wird, gedanklich rückwärts ablaufen zu lassen , taucht in den von Heisenberg mitgeteilten Gesprächen der Atomphysiker durchaus auf, aber nur dunkel, unausdrücklich und unbegriffen. Man spürt bei Heisenberg, dem vielleicht tiefsten Denker in der Geschichte der Atomphysik, geradezu körperlich das Sehnen und Drängen nach diesem „Urgrund“, in dem sich alle Phänomene begreifen lassen. Aber er hat ihn nicht gefunden und konnte es nicht, weil dieser insgesamt so tief gebildete (und irgendwie fast überirdisch sympathische) Wissenschaftler nur eine philosophische Sekundärbildung besaß, wie er etwa in dem bereits zitierten Gespräch mit von Weizsäcker verrät, wenn er sagt: „Man könnte auch ... an den Hegelschen Dreischritt denken: Thesis-Antithesis-Synthesis.“ Dieser vielzitierte „Dreischritt“ ist nun alles, nur nicht Hegel, der vielmehr ausdrücklich schreibt: „[Weil] der Synthesis der Sinn von einem äußerlichen Zusammenbringen äußerlich gegeneinander Vorhandener am nächsten liegt, ist mit Recht der Name Synthesis, synthetische Einheit außer Gebrauch gesetzt worden.“ Und die Worte „Thesis“ und „Antithesis“ verwendet Hegel selbst nur als Zitate, wo er die Haltlosigkeit und Willkürlichkeit der (insbesondere Kantischen) Antinomien aufzeigen will. All dies hat mit Wortspielen gar nichts, wohl aber mit grundsätzlich verschiedenen Gedanken zu tun: Das Denken in „Alternativen“ oder in „Thesis und Antithesis“ sucht notwendig überall die abstrakte Symmetrie und wundert sich dann unter anderem über die Nichtsymmetrie von Materie und Antimaterie. Dagegen muß das philosophische Modell des Universums in seinem übergreifenden Charakter ein asymmetrisches sein, denn das, was das Sich-von-sich-selbst-Unterscheidende in ebendiesem Akt setzt, ist dem es Setzenden nicht gleichwertig, sondern durch dieses bedingt.

Die von Heisenberg formulierte Alternative, die die Neigung zum Absoluten uns stellt, hat sich in der politischen Geschichte Deutschlands tatsächlich durchgeführt. Auf die eine Seite, den Nationalsozialismus, spielt Heisenberg im obigen Zitat an, die andere kommt in einem frühen Gespräch zwischen ihm und Nils Bohr zur Sprache, über das „Der Teil und das Ganze“ ebenfalls berichtet: Preußen. Dieser in seinem Grundcharakter auf strenger Rationalität, auf Wissenschaft und Kunst und in den Menschen auf „Unterordnung des Einzelnen unter die gemeinsame Aufgabe, Bescheidenheit der privaten Lebensführung, Ehrlichkeit und Unbestechlichkeit, Ritterlichkeit“ (so Heisenberg) beruhende Staat zog von Anfang an, schon zu seiner Zeit als Kurfürstentum Brandenburg, nicht nur die religiös Verfolgten seiner Zeit (erst die Hugenotten, später Salzburger, Berchtesgadener und Böhmen), sondern vor allem die bedeutendsten geistigen Persönlichkeiten und Künstler an und erweckte Sehnsüchte bei jenen, die nicht kamen, wie der Chronist Varnhagen von Ense 1827 während einer Reise durch mehrere deutsche Universitätsstädte berichtete: „Wie man überall doch Berlin im Auge hat! Kein Gelehrter und kein Künstler in Deutschland, der nicht vorzugsweise dahin Wunsch und Absicht richtete!“ Preußen war ein Einwanderungsland, geleitet von der (christlich-protestantischen) Vorstellung eines Absoluten, das nicht ideologisch ausschließt, sondern aufnimmt, was guten Willens ist. Dabei kostete die Aufnahme der religiös Verfolgten den preußischen Staat zunächst viel Geld  er übernahm sogar die Reisespesen der Einwanderer, die von eigens entsandten preußischen Reisekommissaren ausbezahlt wurden , aber die damaligen preußischen Herrscher dachten erstens visionär und zweitens menschlich. „In Gottes Namen, alle annehmen“ schrieb Friedrich-Wilhelm I. seinerzeit, und: „Wenn sie auch nichts an Vermögen mitbringen, so soll doch für ihr Auskommen gesorgt werden.“ Und weil mit den Menschen immer auch Gedanken kamen und diese Gedanken mehr verarbeitet als abgelehnt wurden, war Preußen in mehreren Abschnitten seiner Geschichte jeweils der modernste Staat Europas. In allem bekanntlich das Gegenteil war Deutschland während des Nationalsozialismus. Anders als dort beruhte die Zugehörigkeit zum politisch verfaßten Volk in Preußen nicht auf der „Rasse“, einem Naturelement, das niemand ändern kann, sondern wesentlich auf Freiheit. „Ich bin ein Preuße, will ein Preuße sein“ heißt es dementsprechend im Refrain des „Preußenliedes“. Und dieser freie Wille, der wenig mit Willkür und noch weniger mit blindem Gehorsam, dafür viel mit selbstgewisser innerer Freiheit und mit Pflichterfüllung des Einzelnen gegenüber dem als in ihm selbst gegenwärtig gewußten Absoluten zu tun hatte, er trug diesen Staat durch Höhen und Tiefen  bis zu dessen Selbstaufgabe 1871. Wenn dieser Wille, sich bestimmend aus dem Wissen um unsere eigentümliche Identität, nicht wieder durchdringt in Deutschland, dann wird es unserer Nation früher oder später so ergehen wie dem antiken Griechenland, das so lange das deutsche Ideal gewesen ist im Gegensatz zur römisch-imperialen Orientierung Frankreichs und Englands: Es wird als eigenständige Individualität gänzlich untergehen. Das Ergebnis wäre ein „Europa“ ohne Zentrum, das mit Europa nichts mehr gemein hätte als den Namen: ein zu undefinierbarem Brei Zermantschtes. Deutschland soll also keinesfalls ein Land der Ideen, sondern wieder ganz das Land der Idee werden.

Das bedeutet allerdings nicht unbedingt, daß die staatliche Einheit „Bundesrepublik“ erhalten bleiben muß, die sich seit 1990 an jedem 3. Oktober wesentlich mit Würstchenbuden, Bierzelten und (großenteils ausländischer) Popmusik feiert, ohne daß ernsthaft davon die Rede wäre, was das „Deutsche“ in der „deutschen Einheit“ eigentlich sei. Die „separatistischen Tendenzen“, die in jüngster Zeit bei dem einen oder anderen Landes-Ministerpräsidenten sowie in der öffentlichen Meinung beobachtet und beklagt worden sind, könnten dunkle Vorboten einer sich allmählich entwickelnden Ãœberzeugung sein, daß die deutsche Nation immerhin noch besser daran ist, wenn unterschiedliche politische Ãœberzeugungen jeweils konsequent verwirklicht werden statt überhaupt nicht. So könnte sich das, was im eigentlich deutschen, nämlich ideellen statt ideologischen Sinne „Allgemeinwohl“ bedeutet, in nicht nur rhetorischem, sondern wirklichem politischen und geistigen Wettbewerb nach und nach wieder neu bestimmen. Anders als zu Zeiten früherer, im Ergebnis nur Unheil über Deutschland bringender politischer Einheiten und anders als während der erzwungenen deutschen Nachkriegs-Teilung könnte jeder Deutsche frei entscheiden, in „welchem Deutschland“ mit welcher Akzentuierung des Allgemeinwohls er leben will. Die deutsche Einheit läge wieder dort, wo sie schon immer gelegen hat: In Sprache, Kultur und nach der Tiefe sehnendem Geist. Bis  vielleicht  die heute tonangebenden politischen Ideologien sich in ihrer freien Realisierung an der unbestechlichen Wirklichkeit soweit abgearbeitet haben werden, daß Deutschland zum ersten Mal in seiner neuzeitlichen Geschichte reif sein wird für eine politische Einheit, die seiner geistigen Größe Ehre macht.

Prolog:
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
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Autor: Prussianes
erstellt: 09.04.2005
gelesen: 1821 mal
Stichworte: Deutschland
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